Über Elias Canetti (Rustschuk bzw. Rousse in Bulgarien 1905 – Zürich 1994; Nobelpreis für Literatur 1981) Text von Ansgar Bach
Auf eine Frage in der Süddeutschen Zeitung vom 17. Juli 2000 zum gemeinsamen Chemiestudium an der Universität Wien (1924-29), antwortete Canettis damaliger Kommilitone, der spätere Biochemiker und Essayist Erwin Chargaff: Der Canetti und ich sind gleichzeitig auf der Universität gewesen, es hat ihn aber nie jemand dort gesehen. […] Aber Canetti ist ein großer Schriftsteller, und ich will nichts gegen ihn sagen. Von der Autobiographie mag ich aber nur den ersten Band, „Die gerettete Zunge“. Chargaff und Canetti haben aus ihrer Wiener Zeit noch etwas gemeinsam: Beide gehörten zum höchst ergebenen Hörerkreis auf den berühmt-berüchtigten Vorlesungen des rhetorisch wütenden Fackel-Autors Karl Kraus.
Im von Chargaff zurecht gelobten ersten Band der Autobiographie erzählt uns Canetti die spannend zu lesende Geschichte seiner polyglotten Herkunft als Kind sephardischer Eltern in Bulgarien. Zu Hause wird spanisch, bulgarisch und zwischen den Eltern deutsch gesprochen. Unter anderen Umständen, doch gleich > Primo Levi, weist Canetti auf die Bedeutung der Sprache hin, „man konnte durch ihre Kenntnis sich selbst oder anderen Menschen das Leben retten„. Die Familie zieht 1911 nach Manchester und Elias muss in der Schule schnell Englisch lernen. Sein Vater führt den Kleinen mit Kinderbüchern in die große Literatur ein: Tausendundeine Nacht, Grimms Märchen, Tales from Shakespeare, Don Quijote und natürlich Odysseus. Er verspricht seinem Sohn, der später einmal Doktor werden möchte: „Du brauchst nicht ein Kaufmann zu werden wie ich und die Onkel. Du wirst studieren und was dir am besten gefällt, wirst du werden„. Der geliebte Vater stirbt 1911 eines morgens, völlig unerwartet mit nur 31 Jahren. Nach einem Sommeraufenthalt 1913 in Lausanne, wo der achtjährige Elias in kürzester Zeit Deutsch lernt, zieht die Mutter mit Elias und seinen zwei jüngeren Brüdern nach Wien. In dieser Zeit wird die Mutter von einem „Herrn Dozent“ fast täglich umworben, gemeinsam lesen sie Strindberg, Schnitzler und Baudelaire. Canetti erinnert sich: „Damals setzte die Eifersucht ein, die mich mein Leben lang gequält hat, und die Gewalt, mit der sie mich überkam, hat mich für immer geprägt. Sie wurde zu meiner eigentlichen Leidenschaft, die sich um Überzeugungen und besseres wissen nicht im geringsten scherte„. Letztlich bleibt der Nebenbuhler um seine Mutter erfolglos. Auf die Frage, was der Sohn in ihrer Vorstellung später einmal werden solle, antwortet die Mutter: „Am besten ist Dichter und Arzt zusammen“. Sie ergänzt: „wie Schnitzler“, obwohl Schnitzler dem lesehungrigen Jungen noch vorenthalten wird. Und der kleine Canetti erregt sich fürchterlich: „Ich will kein Arzt sein! Ich will kein Dichter sein! Ich werde Naturforscher! Ich fahre weit weg wo mich niemand findet!“. 1919, inzwischen in Zürich, erfährt der strebsame Schüler in seiner Klasse erstmals die Ausgrenzung als Jude, „[…] von jetzt ab erlebte ich sie [die Sticheleien] mit wachem Bewußtsein, nicht die geringste Bemerkung gegen Juden entging mir […]“. 1921-24 lebt Canetti in einer Pension in Frankfurt. Hier tritt ein Kaleidoskop kieggeschädigter Charaktere auf, Canetti erlebt die Folgen der irrwitzig hohen Inflation und hatte „anläßlich einer Demonstration gegen die Ermordung Rathenaus“ sein erstes, folgenreiches Erlebnis mit Massen: „Es war die physische Anziehung, die ich nicht vergessen konnte […] als ginge es hier [in der Masse] um etwas, das in der Physik als Gravitation bekannt ist“. Die enge Beziehung zur Mutter bricht, sie wirft ihm seine Bücherwelt als Scheinwelt vor und empfielt einen mehr realitätsbezogenen Blick auf das Leben. Gewissermaßen zur Beruhigung der Mutter entschließt sich Canetti 1924, nun wieder in Wien, zur Aufnahme eines Chemiestudiums, nur ohne berufliches Ziel in diesem Fach , denn „Die Nützlichkeit der Chemie hing mir zum Halse raus.“ Der zweite Band seiner Lebensgeschichte, „Die Fackel im Ohr„, hält daher auch für Chemiker so manches Zitat bereit. Es begann gut, mit dem Studium des Lehrbuches für Anorganische Chemie und da es für den Studenten „etwas Theoretisches war […]“ fand Canetti „interessierte es mich auch, und ich kam rasch weiter“. Doch schämte er sich „jener Doppelzüngigkeit„, die „die unsinnige Beschäftigung mit der Chemie rechtfertigte“. Eigentlich hätte er lieber Medizin studiert: „Ich verzichtete auf die Medizin, die ich mir als uneigennützigen Beruf, als Dienst an der Menschheit vorstellte, und wählte einen Beruf, der nichts weniger als uneigennützig war: der Chemie gehörte, wie sie von allen Seiten hören konnten, die Zukunft.“ Die Mutter traute der Sache nicht recht, dass ihr Sohn „mit Rücksicht auf ihre materiellen Sorgen […] auf die Medizin verzichtet hatte“. Doch von einem Opfer kann keine Rede sein: „ […] es war kein Opfer, denn ich studierte nicht wirklich Chemie mit der Absicht, einmal ein gut verdienender Chemiker zu werden“. An dieser Stelle kann allerdings nicht weiter auf die vertrackte Mutter-Sohn-Beziehung eingegangen werden. Eine traurige Geschichte erzählt uns Canetti im Kapitel „Backenroth“, über den vereinsamten Kommilitonen Backenroth, der sich mit Zyankali das Leben nimmt. Eine andere, sehr unterhaltsame Laborgeschichte handelt von zwei rivalisierenden Hobbyfotografen, wobei der Frechere durch Ankündigung brisanter Aktfotos das Labor in Bann hält. Immerhin schloss Canetti die Chemie im September 1929 mit einer Dissertation („Über die Darstellung des Tertiärbutylcarbinols“ ?) ab, die ihn „nicht im geringsten interessierte„, und der er sich bloß unterzog, weil er „sie schon einmal begonnen hatte“. Dazu weiter: „Daß ich alles Begonnene einmal fertig machen würde, war mir ein unerklärliches Grundgesetz meiner Natur, selbst die Chemie […]. Ein geheimer Respekt vor ihr spielte bei alledem mit, den ich mir nie eingestanden hatte: die Kenntnis der Gifte. Seit dem Tode Backenroths hatte ich sie immer im Kopf, ich betrat das Laboratorium nie, ohne daran zu denken, wie leicht es für jeden von uns war, sich Zyankali zu beschaffen“. Jetzt begann das Leben des Schriftstellers Canetti, „mit der Chemie war es aus“ aber „die Frage nach dem Lebensunterhalt“ war mit Aufträgen als Übersetzer „gelöst“. Während dieser Studienjahre in Wien zieht es Canetti regelmäßig in die Vorlesungen des charismatischen Karl Kraus, „der strengste und größte Mann der heute in Wien lebe. Vor seinen Augen finde niemand Gnade. In seinen Vorlesungen greife er alles an, was schlecht und verdorben sei.“ Und wenn Kraus aus seinem Werk „Die letzten Tage der Menschheit“ vorlas, so empfindet Canetti „sei man wie erschlagen“. Im zweiten Teil der Autobiographie wird das Wirken von Kraus und der um ihn gescharte Kreis der Interlektuellen in Wien eindrucksvoll festgehalten. Hier lernt Canetti seine spätere Frau, die Schriftstellerin Veza Tauber-Calderon (später Veza Canetti) kennen. Im Sommer 1928 absolviert Canetti in Berlin eine Art Praktikum in Wieland Herzfeldes Malik Verlag, für den er Upton Sinclair übersetzt. Dieser Aufenthalt führt zu weiteren, den Schriftsteller fördernden Bekanntschaften: George Grosz, dessen Ecce-Homo-Bilder den puritanischen Studenten aufrüttelte: „Mein Interesse an der Freiheit in sexuellen Dingen war noch immer nicht groß. Ich wurde jetzt durch diese unerhört harten und erbarmungslosen Darstellungen in sie hineingeworfen […]. Canetti trifft Isaak Babel, „[…] er hat mir mehr bedeutet als jeder andere, den ich damals traf“ und Brecht, dessen „Dreigroschenoper“ er in der Premiere erlebte: „Es war eine raffinierte Aufführung, kalt berechnet.“ Brechts Charakter gegenüber bleibt Canetti skeptisch: „Er wußte Geld wohl sehr zu schätzen […]“ aber von seinen Gedichten in der „Hauspostille“ war er „hingerissen“ und gestand: „In Staub und Asche versank, was ich selber geschrieben hatte.“ In der Folgezeit reift Canetti selbst zum bedeutenden Schriftsteller und brilliert mit einem erstaunlichen Romandebut: Die Blendung, zuerst unter dem Titel Kant fängt Feuer 1931 beendet. Zurück nach Wien im Jahre 1927: Am Morgen des 15. Juli fand eine Demonstration der Wiener Arbeiterschaft statt: „Auf meinem Fahrrad fuhr ich schleunigst in die Stadt hinein und schloß mich einem dieser Züge an“. Hier erlebt Canetti, intensiver als zuvor in Frankfurt, die Masse und das eruptive Entfesseln von Gewalt: „[…] der Justizpalast brannte. Die Polizei erhielt Schießbefehl, es gab neunzig Tote […]“ und er erinnert sich: „Es ist das nächste zu einer Revolution, was ich am eigenen Leib erlebt habe. […] Ich wurde zu einem Teil der Masse […].“ Die so erlebte Art von Masse charakterisiert Canetti später in seinem berühmten, 1960 erschienenen Buch Masse und Macht, als ´offene Masse‘, die keinen Führer braucht. Im Vorwort heißt es: „Den Plan zu einem Buch über >Die Masse< faßte ich schon 1925, als ich 20 war, also lange vor der >Blendung<. […] So hat das Buch mich eigentlich 35 Jahre begleitet […].“ In „Das Augenspiel“, dem dritten Teil seiner Autobiographie, berichtet uns Canetti – vielleicht etwas zu sehr im ‚Namedropping-Stil´ – über seine Begegnungen in der Künstlerszene Wiens bis 1937: Hermann Broch, Alban Berg, Robert Musil, Fritz Wotruba, James Joyce oder Thomas Mann, dessen Zauberberg Canetti (wie auch >Primo Levi) sehr beeindruckt hatte. Nachdem ´Anschluß‘ Österreichs 1938 an das Deutsche Reich emigrieren Elias und Veza Canetti, die 1934 in Wien heirateten, über Paris nach London. In späteren Jahren (seine Frau stirbt 1963) lebte Elias Canetti zurückgezogen in London und Zürich. Sein vielseitiges Werk, es umfasst neben dem Roman Die Blendung und seiner soziologische Analyse Masse und Macht mehrere Dramen, Aphorismen, umfangreiche autobiographische Aufzeichnungen und Essays, wurde 1981 mit dem Nobelpreis für Literatur gekrönt. © Ansgar Bach
Werke u.a. : Die Blendung. Roman (1931/ 1935), Die Hochzeit. Drama (1932), Komödie der Eitelkeit. Drama (1934), Die Befristeten. Drama (1952), Masse und Macht (1960), Aufzeichnungen 1942-1948 (1965), Die Stimmen von Marrakesch. Aufzeichnungen nach einer Reise (1968), Alle vergeudete Verehrung. Aufzeichnungen 1949-1960 (1970), Die Provinz des Menschen. Aufzeichnungen 1942-1972 (1973), Der Ohrenzeuge. Fünfzig Charaktere (1974), Das Gewissen der Worte. Essays (1975), Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend (1977), Die Fackel im Ohr. Lebensgeschichte 1921-1931 (1980), Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931-1937 (1985)
Literatur: Elias Canetti in „TEXT+KRITIK“ Zeitschrift für Literatur, Heft 28, (1982),
Zu Elias Canetti. Hrsg. M. Durzak, Klett-Verlag, Stuttgart (1983), Elias Canetti. C. Peterson, Colloquium Verlag Berlin (1990).
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